Brüderische Gemeinschaft als universales Lebensmodell? Die Herrnhuter Brüdergemeine im 18. und 19. Jahrhundert zwischen Uniformität und Pluralität

Brüderische Gemeinschaft als universales Lebensmodell? Die Herrnhuter Brüdergemeine im 18. und 19. Jahrhundert zwischen Uniformität und Pluralität

Organisatoren
Maryam Haiawi, Institut für Historische Musikwissenschaft, Universität Hamburg; Maximilian Rose, Fachbereich Geschichte, Universität Hamburg
Ort
Hamburg
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
27.07.2023 - 28.07.2023
Von
Gabriele Carlo Bellinzona, Universität Hamburg

Die Tagung widmete sich aus interdisziplinärer Perspektive der zentralen Frage nach der Tragfähigkeit des Ideals einer universellen, aber gleichzeitig aus diversen ethnisch-kulturellen Prägungen bestehenden Zugehörigkeit zur Herrnhuter Brüdergemeine im 18. und 19. Jahrhundert. Es wurde zudem diskutiert, inwieweit diese Anziehungskraft der weltweit zerstreuten Gemeinden angesichts intensiver Kontakte und Verflechtungen mit der Außenwelt fortbestehen konnte.

Im ersten Panel lag der Fokus auf dem Umgang der Brüdergemeine mit ihrer Abgrenzung von anderen Gemeinschaften. Im Zentrum des ersten Vortrags von WOLFGANG BREUL (Mainz) standen die Gemeinschaftsbildung und die Identitätswahrnehmung in der Herrnhuter Diaspora. Dem Herrnhuter Selbstverständnis lag ein transkonfessionell ekklesiologisches Konzept zugrunde, das von einer Relativierung der christlichen Konfessionen geprägt war. Ausgehend von dieser theologischen Reflexion über die Kirche untersuchte Breul den Umgang der Diasporagemeinde mit den etablierten Kirchen und den jeweiligen Pastoren, was mitunter zur Schaffung einer transkonfessionellen Gemeinschaft führte. Thematisiert wurden darüber hinaus die organisatorischen Strukturen der Herrnhuter Diasporagemeinde, die sich zum Teil mit der Organisation anderer konfessioneller Gemeinden verbanden.

BENEDIKT BRUNNER (Mainz) erläuterte die kritische Haltung der führenden Württemberger Pietisten Friedrich Christoph Oetinger (1702-1782), Johann Albrecht Bengel (1687-1752), und Friedrich Christoph Steinhofer (1706-1761) gegenüber den Gemeinschaftskonzepten und der Gemeinschaftspraxis der Herrnhuter Brüdergemeine. Im Mittelpunkt dieser Kritik standen Nikolaus Ludwig Zinzendorf, seine Bibelauslegung und sein Verständnis der Dreifaltigkeit. Trotz dieser Abwertung geriet das Gesamtbild der Herrnhuter Gemeine nicht in einen schlechten Ruf. Brunner analysierte die wechselseitigen Wahrnehmungen und Beeinflussungen zwischen den Herrnhuter und den Württemberger Theologen anhand ihrer Werke und ihres Briefwechsels mit Zinzendorf.

Die „heterodoxe“ Auffassung von Judenmission veranschaulichte LUCIE KAENNEL (Zürich) durch die Schilderung der persönlichen Begegnungen Zinzendorfs mit verschiedenen Anhängern der jüdischen Gemeinde. Inspiriert durch das 1728 in Halle entstandene Institutum Judaicum et Mohammedicum lag Zinzendorf die Bekehrung der Juden am Herzen, was zur Entsendung von Missionaren führte, die die Gründung christlich-jüdischer Gemeinden ermöglichte. In diesem Kontext galten die Bewahrung und die Verteidigung der jüdischen Identität als entscheidende Vorbedingung und wichtige Prämisse zur Bekehrung und Ausbreitung des christlichen Glaubens unter den Juden. Dabei untersuchte Kaennel, in welchem Ausmaß sich Zinzendorfs Verständnis von Judenmission aus der Praxis der pietistischen Bewegung speiste und sich darin einordnen ließ.

Die Einbindung der Herrnhuter in die protestantischen Hamburger Netzwerke des 19. Jahrhunderts beleuchtete RUTH ALBRECHT (Hamburg), deren Vortrag das zweite Panel der Tagung zu Netzwerken in der Herrnhuter Gemeine eröffnete. Exemplarisch lieferte Albrecht Einblicke in die Präsenz der Herrnhuter in der hanseatischen Metropolstadt, die bei religiösen Veranstaltungen als Redner und Gäste vorkamen. Sie hob insbesondere deren Rolle als Mitspieler in der Einebnung der konfessionellen Differenzen hervor.

LUBINA MAHLING (Bautzen) ging auf die herrnhutische Identitätsbildung aus der Perspektive der sorbischen Diaspora ein. Herrnhut, das in unmittelbarer Nähe zum sorbischen Siedlungsraum liegt, entwickelte sich bereits nach seiner Gründung 1722 zum geistlichen Zentrum von Sorben, die sich der Brüdergemeine anschlossen. Mahling weitete die Perspektive ihrer Untersuchung auf die Schriften, Gottesdienste und Gemeinstunden aus, die der Konstruktion einer sorbischen Identität innerhalb der Herrnhuter dienten, und stellte die fundamentale Bedeutung Zinzendorfs für die Beförderung einer sorbischen Kirchengemeinschaft heraus.

Die Vorträge des dritten Panels verband der Fokus auf die Musik als Medium der Identitätsbewahrung und des kulturellen Austausches in der Herrnhuter Diaspora. KERSTIN ROTH und MARLEEN SCHINDLER (Dresden) gingen der Frage nach der Rolle der Lieder als „Brückenbauer“ bei der Identitätsschaffung in der sorbischen Diasporaarbeit nach. Roth und Schindler fokussierten sich dabei auf die Analyse von Liedern aus der Herrnhuter Brüdergemeine, die aus dem Deutschen ins Sorbische übersetzt wurden und damit einen direkten sozialen, kulturellen sowie religiösen Kontakt zweier ganz unterschiedlicher Sprachgruppen bezeugen. Den Akzent legten die Vortragenden auf die Rezeption und Funktion der religiösen Gesänge als wichtiger Erinnerungsspeicher in der sorbischen Diaspora.

Waren die letzten beiden Vorträge auf Übersetzungs- sowie Musikkulturgut der sorbischen Herrnhuter Diaspora ausgerichtet, so fokussierte der Beitrag von RYOTO AKIYAMA (Kyoto/Göttingen) auf die interkontinentale Entwicklung der Herrnhuter Blaskapellen und Posaunenchöre im Kontext der Missionen in Südafrika und Namibia. Akiyama schilderte die besondere Vernetzung und Zusammenarbeit der Blaskapellen und Posaunenchöre mit den Missionsgesellschaften, Jünglingsvereinen und kirchlichen Sozialarbeitsorganisationen, die in den beiden südafrikanischen Kolonialgesellschaften wirkten.

CHRISTOPHER OGBURN (Winston-Salem, NC) zeigte die Bedeutung, welche die Musik in den amerikanischen Niederlassungen der Herrnhuter Gemeine besaß. Dabei ging er besonders auf die Stellung und die Funktion des Collegium Musicum ein. Ogburn stellte die identitätsstiftende Relevanz der deutschsprachigen Musik im englischsprachigen Raum heraus, sowohl als Medium der Selbstvergewisserung als auch des kulturellen Austausches.

Im Anschluss gewährte CHRISTOPH SIEMS (Halle-Wittenberg) einen Einblick in die facettenreiche Musikszene der Norweger Missionsgesellschaft (Det Norske Misjonsselskap), die 1842 in Stavanger ins Leben gerufen wurde. Siems erläuterte die enge Kooperation zwischen der Norweger Missionsgesellschaft und der lokalen Herrnhuter Gemeinde, deren Vertreter, Søren Daniel Schiøtz (1796-1863), einen wesentlichen Beitrag zum Aufbau des Missionswesens leistete. Eingebettet in diese vielfältigen interkonfessionellen Beziehungen spielte die musikalische Produktion der Herrnhuter eine wichtige Rolle, denn sie beeinflusste das Musikwissen der Norweger Missionare, das eine breite Wirkung entfaltete.

Anhand des reichlichen Archivmaterials des Genadendaler Museums in Südafrika illustrierte JÜRGEN MAY (Stellenbosch/Bonn) den Übertragungsprozess brüderischer Musik des deutschsprachigen Raums auf die lokale Musikkultur der Herrnhuter Missionsstation in Baviaanskloof (heute Genadendal). In dieser Konstellation galt Musik als bevorzugtes Medium im Prozess der Assimilierung und Kolonisierung der Khoikhoi-Gemeinde. Heute werden jene europäischen Fremdeinflüsse jedoch von der lokalen Herrnhuter Gemeinde als Teil ihrer eigenen Identität wahrgenommen.

Den Abschluss dieses Panels bildete der Vortrag von INGE ENGELBRECHT (Stellenbosch). Ihre Ausführungen bezogen sich auf die Lebensgeschichte des Herrnhuter Pastors Ezechiel Weber (1880-1947), dessen Enkelsohn der Komponist Ezechiel „Sacks“ William (1943-2022) war. In seinem in einer veralteten Form von Afrikaans verfassten Tagebuch schilderte Weber seine persönliche Glaubenserfahrung, die in die Geschichte der Herrnhuter Brüdermission im südafrikanischen Genadendal vollkommen integriert war.

Die globale Ausbreitung der Brüdergemeine als soziale, wirtschaftliche und moralische Herausforderung war Thema des vierten Panels. Am Beispiel der Herrnhuter Mission unter schwarzen Versklavten in Dänisch-Westindien argumentierte MICHAEL LEEMANN (Frankfurt am Main) gegen das Narrativ, dass die Herrnhuter Glaubensboten dem Rassismus der transatlantischen Versklavung das egalitäre Bild einer Gemeinschaft von „Brüdern“ und „Schwestern“ entgegenstellen wollten. Anhand der Diskussionen über die Kirchenzucht zwischen 1749 und 1770 innerhalb der Herrnhuter Mission zeigte Leemann, dass die vermeintliche Gleichheit zwischen weißen Missionaren und schwarzen Missionierten bloß ein hartnäckiges Narrativ darstellt, das auf keinem historischen Fundament basiert.

Ebenfalls im missionarischen Kontext situierte MENJA HOLTZ (Braunschweig) das Thema ihres Vortrags. Im Mittelpunkt stand die Herrnhuter Missionsstation Fairfield in Ontario, das heute ein Reservat der Lenape First Nation ist. Holtz konzentrierte sich auf die wirtschaftliche Entwicklung des Ortes seit der Gründung 1792. Die wechselhafte Geschichte von Fairfield diente als Basis, um die komplexen Beziehungen zwischen Indigenen, Missionaren und der Kolonialgesellschaft zu untersuchen.

CHRISTINA PETTERSON (Nuuk) stellte die Herrnhuter Siedlungen Fulneck (England) und Christianfeld (Dänemark) ins Zentrum ihrer Betrachtungen. Beide wurden in der Mitte des 18. Jahrhunderts gegründet. Anhand von persönlichen Zeitzeugnissen ging Petterson der Frage nach, inwieweit die sozialen Unterschiede innerhalb der Brüdergemeine in der damaligen Zeit reflektiert wurden und für den Beitritt zur Glaubensgemeinschaft auschlaggebend waren.

Thema des letzten Panels waren die künstlerischen Artefakte der Herrnhuter Gemeinschaften. PETER VOGT (Herrnhut) nahm die sogenannten Stammtafeln in den Blick. Die Stammbäume illustrierten die weltweite Präsenz der Herrnhuter und ihre vielfältigen Aufgaben, wobei sie auf das Gleichnis vom Weinstock (Johannes 15,1-8) rekurrierten. Vogt ging sowohl auf die theologischen Hintergründe als auch auf die künstlerische Inszenierung der Stammbäume ein. Im Fokus stand die Frage nach der Funktion dieses Mediums für das Leben innerhalb der Gemeinde.

Im Anschluss widmete sich KARIN SCHRADER (Bad Nauheim) dem Porträtist Johann Georg Ziesenis (1716-1776). Ihr Augenmerk lag auf dessen Prägung durch den Herrnhuter Pietismus. Schrader untersuchte, inwieweit die sogenannten Freundschaftsbilder, die Ziesenis von Herrnhuter Brüdern in den 1770er-Jahren anfertigte, zur Herstellung einer kollektiven Identität dienten. In diesem Zusammenhang führte sie einen Vergleich mit anderen Freundschaftsgalerien des 18. Jahrhunderts durch.

Im letzten Vortrag analysierte JENS KREMB (Bad Honnef) das Verhältnis des Kunsttischlers Abraham Roentgen (1711-1793) sowie seines Sohnes David (1743-1807) zur Herrnhuter Brüdergemeine. Gegenstand seiner Ausführungen waren ihre Lebensläufe, die teilweise eine schwierige Beziehung zu den Glaubensgenossen offenbaren. Dabei ging es um Fragen des wirtschaftlichen Erfolges der Roentgen-Familie sowie um ihre gewerbliche Unabhängigkeit von den Herrnhutern.

Konferenzübersicht:

Panel 1: Nähe und Abgrenzung zu anderen religiösen Gemeinschaften

Wolfgang Breul (Mainz): Gemeinschaft und Identität in der Herrnhuter Diaspora

Benedikt Brunner (Mainz): Zwischen Anziehung und Ablehnung. Perspektiven Württembergischer Pietisten auf die Herrnhuter Gemeindekonzepte und -praxis in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts

Lucie Kaennel (Zürich): Zinzendorfs „heterodoxe“ Auffassung von Judenmission

Panel 2: Netzwerke und multiple Zugehörigkeiten

Ruth Albrecht (Hamburg): Herrnhuter in den protestantischen Hamburger Netzwerken des 19. Jahrhunderts

Lubina Mahling (Bautzen): Nationalart und brüderische Gemeinschaft. Beobachtungen zur herrnhutischen und nationalen Identitätsbildung aus der Perspektive der sorbischen Diaspora

Panel 3: Musik als Medium der Identitätsbewahrung und des kulturellen Austausches

Kerstin Roth / Marleen Schindler (Dresden): Lieder als Brückenbauer – Zur identitätsstiftenden Funktion von Herrnhuter Liedern in der Diasporaarbeit

Ryoto Akiyama (Kyoto/Göttingen): Linkage and Delinkage Among German Congregational Brass Bands: Intercontinental Dynamics of Moravian Bands and Posaunenchöre

Christopher Ogburn (Winston-Salem, NC): The Collegium Musicum: Identity Construction in the American Settlements of the Moravian Church

Christoph Siems (Halle-Wittenberg): Musik und Mission in Stavanger

Jürgen May (Stellenbosch/Bonn): Imitation – Translation – Notation: Music, Cultural Transformation and Selfhood in the Moravian Mission Station of Genadendal (South Africa)

Inge Engelbrecht (Stellenbosch): “I Could Say I Know that there is a Heaven”: Ezechiel Weber (1880–1947), a Life Devout

Panel 4: Globale Ausbreitung als soziale, wirtschaftliche und moralische Herausforderung

Michael Leemann (Frankfurt am Main): Mit Talar und Peitsche? Herrnhuter Kirchenzucht, Vergemeinschaftung und die Plantagen Dänisch-Westindiens, 1749–1770

Menja Holtz (Braunschweig): Subsistenz und wirtschaftliche Marginalisierung in einer Lenape und Herrnhuter Siedlung im südlichen Kanada im 19. Jahrhundert

Christina Petterson (Nuuk): Memoirs, Community and Social Change: A Comparative Study

Panel 5: Kunstschaffen zwischen Kollektivität und Individualität

Peter Vogt (Herrnhut): Ikonografie der Zusammengehörigkeit. Die Stammtafeln der Brüdergemeine im 18. Jahrhundert

Karin Schrader (Bad Nauheim): Johann Georg Ziesenis und die Herrnhuter Brüdergemeine

Jens Kremb (Bad Honnef): Über das schwierige Verhältnis zwischen Abraham und David Roentgen und der Herrnhuter Brüdergemeine in Neuwied am Rhein

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